Ein erstes Mal | Die neuen Leiden des alten J. – oder: wie ich lernte, den Marathon zu lieben

Alles begann im Dezember…

Hätte ich doch nur kurz überlegt, aber der Mund war schneller als das Gehirn und schwupps wars passiert. Im Nachgang eines emotions- und alkoholgeschwängerten Männergeprächs mit Kumpel Martin die Anmeldung zum Berlin-Marathon rausgeschickt. Gebetet, dass ich keinen Startplatz kriege. Pustekuchen. Die fatale Mail mit der Zusage war schneller da, als ich mir vernünftige Laufschuhe besorgen konnte…

Bis dahin war ich ohne regelmäßiges Training gelegentlich 10 km, einen Halbmarathon oder auch mal den BIG25 „mitgelaufen“. Und nun im zarten Alter von 56,7 Jahren der ersten Marathon. Nach dem Feiertagskoma wagte ich Anfang des Jahres mal einen ersten vorsichtigen Blick auf verschiedene Trainingspläne im Internet: 3-4 mal Training bei 40 – 60 km pro Woche – mindestens. Und das bis September!! ARG! Nun gut, dann also im Januar die erste Schnuppertrainingsrunde am Wannsee mit den Mädels und Jungs von der supernetten Faultier-Laufgruppe. Bei einem ziemlich entspannten Trainingspace von ca. 06:30 min/km gingen bei mir nach ca. 15 km die Lichter aus. Na super, fängt ja gut an. Aber noch ist ja Zeit bis zum 24.09. … Wenigstens konnte ich jetzt ruhigen Gewissens mit meiner inneren Shoppingqueen Gassi gehen und „musste“ alles einkaufen, was ein Läufer halt so „braucht“: Laufuhr, schicke Laufschuhe und dazu farblich abgestimmte Klamotten für oben, unten und ganz unten, Trinkgürtel/Energieriegel/Powergel/Isodrinks, ne coole sportliche Sonnenbrille …
Laufkumpel Martin schleppte mich dann in den folgenden Wochen entweder zu Friedersdorfer Matschrunden durch den Wald oder zu den Faultier-Läufern. Die regelmäßigen Runden zeigten auch bald Wirkung und die Lichter gingen erst ab km 18 aus 🙂

Zum Glück stiegen ab März die Temperaturen und damit gingen mir meine persönlichen Wetterausreden („zu kalt“/“zu naß“/“zu windig“) fürs Trainingsrundenschwänzen verloren. Mit jeder gelaufenen Runde verschoben sich allmählich meine Vorstellungen von „Weit“ und „Schnell“ . Ende März gings dann schon konstant mit 06:20er Pace über 20 km und die Lichter glimmten am Ende sogar noch ein bisschen. Aber alles noch weit weg vom inzwischen ausformulierten persönlichen Mindestziel, den Berlin-Marathon locker ohne Schaum vor dem Mund in 4:30 h durchzulaufen und dabei möglichst nicht im Notarztwagen zu landen. Daher „beschloss“ ich, daß weiteres „Rumwurschteln“ wie bisher wohl nix bringen wird und tat zwei Dinge: 1. Eintritt in den neugegründeten „Laufklub Berlin“ und 2. Anmeldung zum Laufseminar in Motzen (www.laufenimdahmespreewald.net) Und siehe da, am Ende hat mir die Lauffee doch noch ein zartes Küsschen auf die Wade gehaucht. Nach dem sehr empfehlenswerten Laufseminar in Motzen habe ich in den folgenden Wochen leise „Kniehub, Armarbeit, Körperspannung“ vor mich hin brabbelnd unermüdlich 25-km-Runden um den heimatlichen Krüpelsee gedreht. Und der fiese Mix aus Lauf-ABC, Dehnungsübungen, Steigerungsläufen, Pyramidentraining, Black-Roll-Parties und Biertrinkrunden beim wöchentlichen Trainingstermin mit dem Mädels und Jungs vom Laufklub Berlin hat auch nicht grad geschadet. Ich lernte dabei vor allem den eigenen Körper viel besser kennen und verstehen. Auf einmal hatte ich Schmerzen in Muskelgruppen, von denen ich vorher nicht einmal wusste, dass sie existieren :-). Netter Nebeneffekt: Schwergewichtige Fachbegriffe wie Endbeschleunigung, Carboloading, Laufspiel, anerobe Schwelle usw. kamen mir nun locker über die Lippen. Willkommen in der bunten Wunderwelt des Lauftrainings!
Anfang Juni dann der erste Versuch über 35 km. Kaum war ich wieder zu Hause, packten mich zum Entsetzen der holden Gemahlin Schüttelfrost, Zähneklappern und Schneegestöber vor den Augen. Wieder was gelernt: vernünftig essen vor und trinken während des Trainings ist keine schlechte Idee…

Endspurt in der Vorbereitung Ende August: Gemeinsame Dauerläufe mit Laufwunder Anja als Pacemakerin und Motivationscoach. 27 km, 30 km, 35 km mit einem Pace von 06:10-06:20 min/km. Die Ausdauer stieg und auch das innere Vertrauen darin, den Marathon zu schaffen. Nachdem ich durch gezielten Verzicht auf geliebte Naschereien und konsequentes weniger essen mein Wunschkampfgewicht punktgenau eine Woche vor dem Lauf erreicht hatte, musste ich in der letzten Woche als braver Jünger einer wissenschaftlich korrekten Laufvorbereitung im Rahmen des „Carboloadings“ schlagartig mein Magen mit Unmengen von Kartoffeln, Nudeln, Reis, Smoothies usw. schocken. Aber wenigstens konnte ich mal wieder die heißgeliebten und schwer vermissten Gummibärchen ohne schlechtes Gewissen in mich reinstopfen …

Schließlich war der dann da, der „M-Day“. Schön ausgeschlafen, brav großes und kleines Geschäft verrichtet, Pulsuhr geladen, Bändchen mit Pace- und Zeitvorgaben ums Handgelenk geschnallt, Schuhe korrekt geschnürt, Vereinstrikot frisch gewaschen und das spärliche Haupthaar auf Windschlüpfrigkeit gestutzt. So hüpfte ich gemeinsam mit 20.000 anderen Verrückten aus der ganzen Welt im Block H bei wolkenverhangenem Himmel laut „Hu Hu“ schreiend und dazu rythmisch mit den Händen über dem Kopf klatschend im Startbereich auf der Straße des 17. Juni auf und nieder. Von Anfang an stur nach Zeitplan laufend konnte ich dann mit Erleichterung feststellen, dass Kraft und Kondition ausreichten, um auch nach Kilometer 30 den Pace gemäß dem 4:30-h-Masterplan problemlos durchzuhalten. Während ab km 35 der eine oder andere Mitläufer anfing, mit hängenden Schultern und glasigen Augen vor sich hinzuschlurfen oder sich gleich auf die Bank beim Sani und/oder Massageguru legte, spulte ich im Vollautomatiklaufzombiemodus die Kilometer runter. Bei km 39 kam er dann aber doch noch zu mir, der böse Mann mit dem Hammer. Zum Glück standen die Mädels und Jungs vom Laufklub Berlin strategisch günstig als Fanblock am Gendarmenmarkt und brüllten mich wach, als kurz vor dem Ziel in meinem Kopf nur noch ein fatal-lähmender Gedanke kreiste: „Ich hab keinen Bock mehr!!!!“. Planerfüllender Zieleinlauf bei 4:29:54, Medaille um den Hals, Siegerposenphoto von einem netten Mitmarathonie, Überlebensmeldungs-Telefonat mit der bang wartenden Gattin, Whatsup-Meldungen an die nichtlaufende und mitfiebernde Welt da draußen, Klamotten holen – das alles absolvierte ich im Adrenalin-Erschöpfungs-Glücks-Rausch. Beim anschließenden Braten- und Bierschmaus mit dem Laufklub Berlin konnte ich dann sogar wieder lachen. Und auf die unschuldige Frayge eines netten Sportskameraden nach dem nächsten Marathon gabs mit einem entspannten Schmunzeln die Antwort: „Warum eigentlich nicht?“

tldr; aus Übermut mit 56 Jahren zum ersten Marathon angemeldet; bei Laufseminar Technik verbessert und durch fleißiges Training mit und ohne Laufklub Berlin die Kondition gesteigert; ein realistisches Ziel vorgenommen; den ersten Marathon sauber und entspannt durchgelaufen; kann ich nur empfehlen; aber bitte mit einem vernünftigen Vorbereitungstraining (am besten gemeinsam mit netten und verständnisvollen Mitläuferinnen und Mitläufern)“